Was ist das – Katholische Soziallehre?

8. Juni 2017


Und: Taugt sie heute zur Bewertung von politischen Konzepten?

Offenbar ist das, was Menschen unter dem Begriff „Katholische Soziallehre“ verstehen, sehr unterschiedlich zu dem, was ich darunter verstehe. Normalerweise stört mich das nicht. Wenn aber eine Studie die Katholische Soziallehre zum Bewertungsmaßstab erhebt und sich Kritik daran auch auf die Reichweite der Aussagen der Katholischen Soziallehre bezieht, dann möchte ich schon intervenieren und einmal festzuhalten, was denn die Bewertungsfolie ist, vor der die Programmatik der AfD in der Studie Grundpositionen der Partei „Alternative für Deutschland“ und der katholischen Soziallehre im Vergleich (pdf) betrachtet wird. Dazu möchte ich das Konzept „Katholische Soziallehre“ kurz bestimmen, wie ich es verstehe und wie es der Studie zugrunde liegt – soweit ich sie kenne und falls ich sie, die Studie, richtig verstanden habe.

Als im Zuge der Industrialisierung im 19. Jahrhundert die Soziale Frage aufkam, hatte die Kirche eine Antwort: die Katholische Soziallehre. Diese Wirtschafts- und Gesellschaftstheorie der Katholischen Kirche entsteht aus der biblisch begründeten Anthropologie (christliches Menschenbild) in Verbindung mit der eigenen theologischen Tradition (Naturrecht), aus der Liberalismus-Kritik des deutschen Idealismus (Kant, Hegel, Schelling, Fichte) und nicht zuletzt aus der praktischen Auseinandersetzung mit der Not der Arbeiter (Bischof Ketteler).

Der Mensch ist nach christlicher Vorstellung nicht nur ein mit Freiheit und Würde, Vernunft und Gewissen begabtes Geschöpf Gottes, also eine Person, sondern immer auch ens sociale, also ein auf die Gemeinschaft hingeordnetes Wesen, so dass von der Kirche stets die Solidarität der Gemeinschaft in gesellschaftlichen, aber auch wirtschaftlichen Fragen zu beachten ist. Diese Verantwortlichkeit tritt als Kerngedanke des Humanitätsideals in der Philosophie des deutschen Idealismus auf. Aus dem Idealismus stammt ferner der entscheidende Gedanke einer prinzipiellen Veränderbarkeit wirtschaftlicher Strukturen durch den Menschen, da diese nicht Teil der Natur, sondern der Geschichte sind. Somit lassen sie sich gestalten und verändern. Die so von der Kirche gewonnene alternative Ordnung bewegt sich zwischen Markt- und Staatsdiktat und orientiert sich am Menschen, ganz im Sinne des idealistischen Humanitätsideals.

Zu diesen theoretischen Überlegungen und Einflüssen trat die konkrete praktische Situation in der beginnenden Industrialisierung hinzu, die mit „Zuspitzung der sozialen Frage“ nur unzureichend beschrieben ist. Unmenschliche Arbeitsbedingungen, niedrige Löhne, Frauen- und Kinderarbeit und katastrophale Wohnverhältnisse, das waren die herausfordernden Umstände, die im Revolutionsjahr 1848 zu drei unterschiedlichen Manifesten führten: dem Kommunistischen Manifest von Karl Marx und Friedrich Engels, dem Manifest der Inneren Mission der evangelischen Kirche, das mit dem Namen Johann Hinrich Wichern verbunden ist, und dem Mainzer Manifest der Katholischen Kirche, das auf dem ersten deutschen Katholikentag vom späteren Mainzer Bischof und Reichstagsabgeordneten Wilhelm Emmanuel von Ketteler entwickelt wurde.

Kettelers Einsatz findet nicht aus akademisch-distanzierter Höhe statt, sondern zielt auf den Alltag der Armen seiner Zeit. Ketteler verbindet Glaube und soziale Frage, indem er Not und Elend der Massen auf Unmoral und diese wiederum auf Unglauben zurückführt. Dieser Unglaube entsteht für ihn aus dem sich in allen Lebensbereichen ausbreitenden Liberalismus. Ketteler unterscheidet jedoch sehr klar zwischen einer freiheitlichen Gesinnung, „die ebenso echt human wie christlich ist und im Christentum ihre volle Verwirklichung findet“ (Schriften. Band 3. Kempten/München 1924, S. 244) und dem christentumsfeindlichen Liberalismus, der mit seinem Materialismus und seiner mechanisch-rationalistischen Wirtschaftslehre zu „einer wahren Pulverisierung des Menschengeschlechts“ (S. 29) führe, da diese die personale Würde des Arbeiters verletzte, weil und soweit sie ihn allein „als Arbeitskraft, als Maschine, als Sache“ in Betracht ziehe, die man „egoistisch ausbeutet“ (S. 152). Ketteler macht deutlich, „daß nur Christus und das Christentum der Welt und insbesondere dem Arbeiterstande helfen kann“ (S. 5). Die Wohlfahrt kommt bei Ketteler weder durch die ungehindert wirksamen Marktkräfte (Liberalismus), noch durch staatliche Maßnahmen (Sozialismus), sondern durch christliche Tugenden, zu denen Fleiß ebenso zählt wie Bescheidenheit.

Die offizielle katholische Position wird in Rom formuliert. In der Enzyklika Rerum novarum (1891) entwirft Papst Leo XIII. die „Magna Charta“ des sozialen Katholizismus, die den Sozialismus ablehnt, das Naturrecht auf Privateigentum unterstreicht sowie Kirche und Staat in die soziale Pflicht nimmt. Zuvor hatten bereits Papst Pius IX. (1864) und eben jener Leo XIII. (1878) mit antisozialistischen Verlautbarungen die Position der Kirche verdeutlicht. Der Syllabus von Pius IX. richtet sich gegen die Irrtümer der Zeit und rechnet den Sozialismus dazu, weil dieser sich gegen die Familie und das Privateigentum richtet, die Enzyklika Quod Apostolici muneris Leos XIII. warnt vor dem pseudochristlichen Duktus des „anarchischen, Moral und Ehe verneinenden, das Eigentumsrecht mißachtenden, radikale Gleichheit fordernden Frühsozialismus“, der die Lehre Christi für seine Zwecke bewußt fehl deute und den es wie eine „todbringende Seuche“, wie eine „Giftpflanze“ auszurotten gelte (Wolfgang Ockenfels: Kleine katholische Soziallehre. Eine Einführung. Trier 1992, S. 36).

Leider scheint es, als habe der Kampf gegen den Sozialismus die Kräfte des Vatikan derart gebündelt, dass sich Rom nur zögerlich und erst sehr spät mit den Leittragenden beschäftigt hat, denn das Lehramt der Katholischen Kirche blieb fast ein halbes Jahrhundert lang eine Antwort auf die Arbeiterfrage schuldig. Diese kam dann umso überzeugender mit der Enzyklika Rerum novarum, in der es gelingt, mit den Armen im Zentrum eine eigene Antwort der Kirche auf die Industriegesellschaft zu geben – jenseits von Liberalismus und Sozialismus. Mehrfach wurde Rerum novarum bestätigt, erstmals vierzig Jahre später in der Enzyklika Quadragesimo anno (1931) von Papst Pius XI., welche die Entwicklung in deutlichen und hochaktuellen Worten kritisiert: „Der freie Wettbewerb hat zu seiner Selbstaufhebung geführt; an die Stelle der freien Marktwirtschaft trat die Vermachtung der Wirtschaft. Im zwischenstaatlichen Leben aber entsprang der gleichen Quelle ein doppeltes Übel: hier ein übersteigerter Nationalismus und Imperialismus wirtschaftlicher Art, dort ein nicht minder verderblicher und verwerflicher finanzkapitalistischer Internationalismus oder Imperialismus des internationalen Finanzkapitals, das sich überall da zu Hause fühlt, wo sich ein Beutefeld auftut“.

Weitere Bestätigung erfuhr Rerum novarum siebzig Jahre später in Mater et magistra (1961) von Johannes XXIII., 1971 in Octogesima adveniens von Paul VI. und 1991 – zum hundertsten Jahrestag – in Centesimus annus von Johannes Paul II., in welcher der Papst kurz nach dem Mauerfall und dem Zusammenbruch des Kommunismus Rerum novarum würdigt und die Relevanz ihres Kerngedankens – Privateigentum und Marktwirtschaft in sozialer Verantwortung – für die Reformländer Osteuropas und die Schwellenländer des Südens betont. Ergänzt wurde die Rerum novarum-Tradition durch die Entwicklungsenzyklika Populorum progressio (1967) Pauls VI., in der die Bedingung für den Fortschritt der ehemaligen Kolonialstaaten Lateinamerikas, Südost-Asiens und Afrikas dargelegt wird: die internationale Solidarität. Die neuste Fortschreibung erfährt die Katholische Soziallehre mit der Enzyklika Caritas in Veritate von Benedikt XVI. (2009), dem Apostolischen Schreiben Evangelii Gaudium (2013) und der Enzyklika Laudato Si‘ (2015) von Papst Franziskus. Diese Schriften bilden den Hintergrund dessen, was sich als Katholische Soziallehre in den vergangenen 170 Jahren entwickelt hat. Auf diesen Texten (unter anderen) basieren auch die Bewertungskriterien, die in der Studie Anwendung finden.

Diese Anwendung ist auch unter den Bedingungen einer globalisierten Wirtschaft und vor dem Hintergrund des Klimawandels sinnvoll. Denn ausgehend vom christlichen Menschenbild der Freiheit und Würde (Personalität) formuliert die Katholische Soziallehre mit der Solidarität, d. h. der Zügelung des individuellen Erwerbstriebs und der Überwindung materieller Selbstsucht zugunsten sozialer und ökologischer Arbeitsbedingungen, Produktionsweisen und Konsumformen, und der Subsidiarität, also dem Vorrang der jeweils kleineren Einheit, mithin die Stärkung regionaler Märkte und lokaler Produkte die zentralen Kriterien, an denen sich auch heute eine Wirtschafts- und Gesellschaftsorganisation aus katholischer Sicht messen lassen muss. Gerade, wenn man auf die drei Enzykliken des 21. Jahrhunderts schaut, bieten diese eine gute Möglichkeit der Einordnung eines zeitgenössischen Parteiprogramms hinsichtlich der Frage, ob es mit der Katholischen Soziallehre übereinstimmt oder nicht. Leider werden in der Studie nur Evangelii Gaudium und Laudato Si‘ verhandelt; Caritas in Veritate bleibt unberücksichtigt. Das ist bedauerlich, weil Benedikt hier unterschiedliche Gerechtigkeitstypen benennt, an denen man Gerechtigkeitsvorstellungen politischer Programme sehr schön messen kann: „Der Markt unterliegt den Prinzipien der sogenannten ausgleichenden Gerechtigkeit, die die Beziehungen des Gebens und Empfangens zwischen gleichwertigen Subjekten regelt. Aber die Soziallehre der Kirche hat stets die Wichtigkeit der distributiven Gerechtigkeit und der sozialen Gerechtigkeit für die Marktwirtschaft selbst betont, nicht nur weil diese in das Netz eines größeren sozialen und politischen Umfelds eingebunden ist, sondern auch aufgrund des Beziehungsgeflechts, in dem sie abläuft. Denn wenn der Markt nur dem Prinzip der Gleichwertigkeit der getauschten Güter überlassen wird, ist er nicht in der Lage, für den sozialen Zusammenhalt zu sorgen, den er jedoch braucht, um gut zu funktionieren. Ohne solidarische und von gegenseitigem Vertrauen geprägte Handlungsweisen in seinem Inneren kann der Markt die ihm eigene wirtschaftliche Funktion nicht vollkommen erfüllen“ (CiV, Nr. 35).

Aber auch die beiden anderen Lehrschreiben enthalten genug Stoff zur Orientierung. Papst Franziskus beschreibt in dem noch auf Gedanken Benedikts zurückgehenden Apostolischen Schreiben Evangelii Gaudium eine Kirche der Gerechtigkeit und Barmherzigkeit als die Kirche der Zukunft. Die Welt stehe heute vor besonderen Herausforderungen, die es nötig machten, sich verstärkt für Lösungen im Geiste des Evangeliums einzusetzen: Armut und Umweltverschmutzung, Terror und Klimawandel, Krieg und Nationalismus. Wer im Einklang mit der Katholischen Soziallehre Politik betreiben will, muss zur Lösung dieser Probleme einen Beitrag leisten. Ebenso wie zum Umwelt- und Klimaschutz – eins der Themen in Laudato Si‘ (neben Technik, Wirtschaft, Armut, Eigentum u.v.a.m.). Die Studie kommt übrigens zu dem Urteil, dass die AfD an den Anforderungen dieser jüngsten Schreiben zur Katholischen Soziallehre scheitert, denn: 1. sie „schweigt [..] zu den Verwerfungen der Weltwirtschaft, propagiert stattdessen nationale Verantwortung für einen nationalen Sozialstaat und spielt die verletzlichen Inländer und die verletzlichen Ausländer gegeneinander aus“ (S. 48 f.), 2. sie „leugnet den anthropogenen Klimawandel und strebt ein Zurück hinter die Politik der ‚Energiewende‘ an“ (S. 49).

(Josef Bordat)

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